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Über Europa liegt ein Kreuz

shutterstock / Stuart Miles
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Alte Grenzen, neue Gräben

Warum wir in Europa einen Klimawandel brauchen

Notizen einer journalistische Inspektion von Claus Reitan – Impuls am 13. Mai 2016 in Fresach bei den Europäischen Toleranzgesprächen:

Der horizontale Balken teilt uns in Nord- und Südeuropa, in ein mediterranes und ein skandinavisches Europa, in ein katholisches und ein evangelisches. Die Vertikale teilt Europa in West- und in Ost-Rom. In römisch-katholisch und griechisch-orthodox. Es ist ein Schisma. Die Gesellschaften in den Feldern dies- und jenseits der Balken unterscheiden sich stark. Namentlich in den Kategorien von Umgang, Sitte, Konvention. In der Geltung des Wortes. Eine der allzeit wesentlichen Fragen lautet:

Was ist für Gesellschaften bedeutsamer: Das Gesetz oder die Moral?

Die einzig treffliche Antwort ist naheliegend: Wesentlich ist der moralische Grundkonsens, sich an die Gesetze zu halten – wobei zu ergänzen ist: sofern sie korrekt-demokratisch zustande gekommen sind, wovon wir ausgehen.

Einer der Gründe für neue Gräben entlang alter Grenzen könnte darin liegen, dass höchst unterschiedliche Vorstellungen über Konventionen auf engem Raum zusammenkommen, zusammenstoßen. Zwei Beispiele aus der Gruppe anekdotischer Evidenz:

  • Erstes Beispiel: Als die skandinavischen Staaten und Österreich vor über zwanzig Jahren, 1994, über ihren Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften, der späteren EU, verhandelten, legten die Skandinavier in Brüssel Zahlen über ihre Land- und Forstwirtschaft vor. Geradezu homerisches Gelächter seitens des griechischen Ratsvorsitzes und der italienischen Verhandlungspartner wurde ausgelöst. Zahlen, so meinten die Vertreter mediterraner Länder, die Brüssel vorgelegt werden, seien eine Sache der Strategie aber doch nicht der Realitäten. Die Skandinavier waren erstaunt und empört.
  • Zweites Beispiel: Auf dem Weg von Wien nach Fresach kam ich im Zug mit einem jungen Mann aus Italien ins Gespräch, der sich auf dem Heimweg von der Arbeit am Bau in Wien nach Brescia befand. Er erzählte, seine Kollegen stets dazu zu ermuntern, als Zuwanderer und Gastarbeiter ihre Würde zu betonen und Rechte einzufordern. Doch das gelinge selten, aufgrund der Umstände und der Verhaltensweisen. Konkret würden diese Arbeiter – etwa jene aus Rumänien – zwar ihren Lohn über rund 2.000 Euro erhalten, davon aber wieder 600 bis 800 Euro zurückgeben.

Welche Regeln gelten also? Worin besteht der moralische Konsens?

Ohne irgendeine Wertung vorzunehmen, darf angemerkt werden, dass die Einstellung verschiedener Gesellschaften zu diesen weichen Faktoren des individuellen und gesellschaftlichen Lebens unterschiedlich ausfällt.

Die Bertelsmann-Stiftung hat es – verdienstvoll – unternommen, ein „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ zu erstellen. Man wollte „messen, was verbindet“. Was zeigt die Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt im internationalen Vergleich“, die auf den Datensätzen von einem Dutzend sozialwissenschaftlicher Forschungen beruht, darunter European Values Study (EVS) und European Social Survey (ESS)? Erfasst werden drei Bereiche:

  • soziale Beziehungen (Akzeptanz von Diversität, Vertrauen in die Mitmenschen, soziale Netze)
  • Verbundenheit (Gerechtigkeitsempfinden, Vertrauen in Institutionen, Identifikation)
  • Gemeinwohlorientierung (gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung sozialer Regeln, Solidarität und Hilfebereitschaft)

Daraus wird ein Gesamtindex sozialer Zusammenhalt errechnet, woraus sich Ländergruppen bilden lassen. Am stärksten ist der soziale Zusammenhalt in den skandinavischen Ländern ausgeprägt (Norwegen, Dänemark, Finnland, Schweden). Es folgen die angelsächsischen Länder (Australien, Kanada, Neuseeland, USA, Irland). Die dritte Ländergruppe mit einem ähnlichen überdurchschnittlichen starken Zusammenhalt bilden Luxemburg, Österreich und die Schweiz. Ihre besonderen Stärken liegen im Institutionenvertrauen und in der Anerkennung sozialer Regeln. Ein „relativer Schwachpunkt“ hingegen, insbesondere in der Schweiz und Österreich, ist die Akzeptanz von Diversität, die dort „unterdurchschnittlich“ ist. Das ist jene Dimension, in der sich Österreich und die Schweiz über die Zeit verschlechtert haben, heißt es in der 2013 erstellten Studie. Im Vergleich der Länder geringer ausgeprägt ist der soziale Zusammenhalt in den Ländern des mediterranen Raumes sowie in Osteuropa, zudem im Baltikum.

Das sind keine absoluten Wertungen sondern Vergleiche unterschiedlicher Länder anhand gleicher Indikatoren. Was sich für Europa zeigt: Das Vertrauen in Institutionen ist höchst unterschiedlich ausgeprägt. Die Toleranz gegenüber Anderen ebenso.

Für unser Thema und wegen der Größe der Sache fokussieren wir uns auf Österreich. Werfen wir einen näheren Blick auf die Aussage, die Akzeptanz von Diversität sei in Österreich gering ausgeprägt: In einem europaweiten Vergleich zeigen die Österreicher die höchste Antipathie gegenüber Migranten, heißt es in dem Band „Zukunft.Werte.Europa“. Die Geburt im Lande ist wichtig, um österreichisch zu sein.

Ein Ausländer als Nachbar stößt in Österreich auf die geringste Akzeptanz

Was meint die Bevölkerung zu den Folgen von Zuwanderung und Migration? In der Studie „Die Österreicher-innen – Wertewandel 1990-2008“ werden dazu Daten referiert. Migrantinnen und Migranten würden

  • die Kriminalitätsprobleme verschärfen (69 Prozent)
  • das Sozialsystem belasten (66 Prozent)
  • Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen (48 Prozent)

Der bereits vor einem Jahrzehnt erreichte Anteil an Zuwanderern ist jedenfalls für 56 Prozent der Österreicher eine Bedrohung für die Gesellschaft. Unter allen europäischen Ländern lehnen die Österreicher am stärksten einen Ausländer als Nachbarn ab.

Zugleich ist zu sehen, dass zwar vier Fünftel der Österreicher ein eindeutiges Votum für die Demokratie ablegen, aber ein auf 21 Prozent angestiegener Anteil „kann sich vorstellen, einen Führer zu haben, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss“.

Zugleich ist in der Gesellschaft – zugegebenermaßen verallgemeinernd gesprochen – zunehmende Unruhe festzustellen. Wähler und politische Lager sind in Bewegung. Ökonomische Sorgen diktieren die Agenda des Alltags. Die internationalen Nachrichten bieten ein verstörendes Bild. Medien versetzen die Öffentlichkeit in ständige Alarmbereitschaft.

Manfred Nowak, Rechtswissenschafter, bringt es auf den Punkt: Einige Realitäten dieser Welt widersprechen dem Konsens universeller Menschenrechte. Die Ursachen dafür liegen für Nowak in einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und in der Globalisierung, die zusammen – dritte Ursache – zu einer zunehmenden Ungleichheit der Einkommen geführt haben. Das lässt Menschen und Gesellschaften unruhig werden. Um es plastisch auszudrücken:

Das Brot wird teuer und die Spiele langwierig

Und vor allem das Schutzbündnis hält nicht mehr. Zwischen Staat und Bevölkerung, also zwischen Machträgern und Unterworfenen, besteht stets das Versprechen, der Einzelne tausche einiges an individueller Freiheit gegen staatliche garantierte Sicherheit ein. Dieses Versprechen wird brüchig. Das hat mit dem technischen Fortschritt, mit der Konkurrenz der Arbeitnehmer auf globalisierten Märkten und mit einer globalisierten Wirtschaftsordnung zu tun, von der für die breite Öffentlichkeit zwei wesentliche Dinge unklar bleiben: Worin bestehen die Regeln? Muss man sich an Regeln halten?

Diese gesamte Gemengelage fördert schwarz-weiß-Denken, befördert die Unterscheidung in Wir und die Anderen. Das schafft neue Gräben entlang der alten Grenzen. Es ist der Akzeptanz von Diversität und der Toleranz nicht zuträglich.

Was ergibt diese journalistische Inspektion der Daten- und Lebenslagen?

Einen außerordentlich hohen Bedarf nach Dialog und nach gelingender Kommunikation. Etwa über Umgang, Sitte, Konvention. Über den Inhalt von Regeln und die Frage nach ihrer Geltung. Über den moralischen Grundkonsens, sich an Regeln zu halten. Es erfordert samt und sonders einen Klimawandel, um die alten Grenzen und die neuen Gräben in Europa zu überbrücken.

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